Nostalgie und Utopie: faszinierende Zahlenreihen und Denkspiele
Wenn man darauf zurückblickt, wie sich in Vergangenheit Technologien durchgesetzt haben und selbiges in die Zukunft projiziert, erscheint es plötzlich wahnsinnig.
Quelle: tagesanzeiger.ch (sowie Bakom, Comparis, Pew Research Center)
Diese Woche habe ich zwei Artikel angeklickt, die mich fasziniert haben. Beide beschäftigen sich mit der Durchsetzung von grundlegenden Innovationen, und beide liefern dazu vor allem viele Zahlen. Der entscheidende Unterschied: Der eine schaut nach hinten, der andere nach vorn. Einer ist Nostalgie, der andere Utopie – eine realistische, aber trotzdem schwer zu begreifende.
Beginnen wir mit der Nostalgie, einem interaktiven Feature auf Tagesanzeiger.ch: «Mit welchen Technologien sind Sie aufgewachsen? Eine personalisierbare Technik-Zeitreise durch die letzten Jahrzehnte» («Abo+).
Zuoberst gibt man zuerst seinen Geburtsjahrgang ein, dann werden mehrere spannende Grafiken angezeigt wie diese, aus der ich ablesen kann, dass ich 1995, als ich mein erstes «Natel» gekauft habe, ein Ericsson GH 388, einer von 6.3% war, also ein typischer «Early Adopter» auf der Kurve (aber zugleich schon nicht mehr bei den allerersten «Innovators», die etwa 1% ausmachen).
Von Anfeindung hin zu ignorierter Normalität
Ich kann mich noch gut entsinnen, wie man zu Beginn regelrecht angefeindet wurde, wenn man es wagte, im Bus oder auf der Strasse zu telefonieren. «Das sind jetzt eben diese neuen Statussymbole», hörte ich mal jemanden sagen, als mein Freund und ich gleichzeitig zwei andere Freunde anriefen.
Wir wissen alle, wie es weiterging, aber die Zahlen beeindrucken immer noch. Schon fünf Jahre später wurde die 50%-Marke, gemessen in Anteil SIM-Karten pro Einwohner, durchbrochen, und weitere fünf Jahre später hatte praktisch jeder eins.
Bei der Durchsetzung der Smartphones ab 2008 ging es sogar noch etwas schneller. Meine private Theorie ist, dass die Leute sich noch erinnern konnten an die letzte Phase, thematisch ja verwandt, und diesmal weniger Widerstand leisteten.
Eindrücklich finde ich ausserdem die Animation, wie schnell ein Film mit 800 MB Grösse bei verschiedenen Geschwindigkeiten heruntergeladen wird, heute wenige Sekunden, mit meinem ersten 56-k-Modem wäre es mehr als ein Tag gewesen. (Wobei ein Film heute eher die dreifache Grösse hat, und zwar in der SD-Version – die von mir kürzlich in 4K gekaufte «Bohemian Rhapsody» war 5.7 GB gross.)
Wie mit dem Smartphone, so mit dem Elektroauto
Der andere faszinierende Artikel ist erschienen bei Quora, einer Frage-und-Antwort-Plattform, auf der sich neben dem normalen Internetblödsinn immer wieder gut durchdachte und hochqualifizierte Texte finden.
Auf die Frage: How soon will electric cars become commonplace? hat Jeffrey Blaisdel aus Alabama schon im März eine so lakonische wie beeindruckende Antwort geschrieben, in der er einfach das Wachstum der letzten Jahre fortschreibt. Falls jemand lieber auf Deutsch liest als auf Englisch, habe ich den Text hier übersetzt: «Wann werden Elektroautos alltäglich sein?» (Ich hoffe, Jeffrey ist einverstanden, ich habe ihm geschrieben.)
Wenn wir diese Zahlenreihen mit der aus dem Tagi-Feature vergleichen, sind sie ja recht ähnlich: Sie beschreiben verschiedene Fälle von einem schnellen Wachstum, das auf sehr geringem Niveau beginnt, eine Weile lang exponentiell verläuft, um dann eine Sättigung zu erreichen.
Wahnsinnig und plausibel zugleich, wie geht denn sowas?
Im Rückblick scheint uns das immer völlig selbstverständlich, nach dem Motto: Ja und? Wie hätte es denn auch sonst kommen sollen?!
In die Zukunft prognostiziert dagegen erscheinen einem die Zahlen irgendwie völlig wahnsinnig – obwohl sie plausibel sind.
Ich fahre seit inzwischen fünf Jahren elektrisch und war und bin seit dem ersten Tag felsenfest überzeugt, dass das unsere Zukunft sein wird (zumindest solange wir noch Auto fahren). Aber wenn ich nun bei Jeffrey lese, dass in weiteren fünf Jahren jedes zweite Auto elektrisch sein könnte, finde selbst ich das schwer vorstellbar, denn heute sehe ich zwar schon viel mehr Elektroautos auf den Zürcher Strassen als vor einigen Jahren, aber absolut immer noch sehr wenige.
Und das ist genau die Krux: Wir können uns exponentielles Wachstum nach wie vor nicht gut vorstellen, obwohl wir es in der Vergangenheit schon oft am eigenen Leib erlebt haben. Auch die alte Weizenkornlegende können wir zwar nachrechnen, aber irgendwie trotzdem nicht begreifen.
Sich exponentielles Wachstum vorzustellen, ist schwierig
Aus der Gegenwart die Zukunft abzuleiten ist schwierig, wenn man fast gleichzeitig völlig konträre Aussagen liest wie diese: Das 2008 formulierte Ziel der deutschen Bundesregierung, im Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf deutschen Strassen zu haben, wurde so krachend verfehlt, dass viele Leute den Kopf schütteln, wenn es nun ersetzt wird durch das neue Ziel: 10 Millionen bis 2030. Das wiederum halte ich für nicht unrealistisch, in Anbetracht der Zahlen im oben verlinkten Artikel, und aktuell insbesondere, wenn man die Entwicklung in Norwegen sieht, siehe unten.
Wir können nicht viel machen ausser zuzuschauen und zu versuchen, in der den täglichen News nachhechelnden Berichterstattung das Big Picture zu erkennen. Ich schaffe das auch nicht, finde es aber bei jedem Technologieschub immer wieder extrem spannend, es zu versuchen.
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Topics: Digitalisierung, Kommunikation, Internet, Scope-Newsletter Peter