Technologie-Rückblick: War es wirklich ein schlechtes Jahrzehnt?

Peter Hogenkamp Peter Hogenkamp on 23. Dezember 2019 08:37:24 MEZ

Unser Fortschrittsglaube hat in den Zehnerjahren «einen brutalen Dämpfer erfahren», schreibt der Tagi. Ich finde nicht.

Wir schreiben das Ende der Zehnerjahre (die Diskussionen, wann Zeiträume korrekt enden, sparen wir uns diesmal), und damit läuft in den Medien neben den üblichen, routinierten Jahresrückblicken auch der ambitioniertere Jahrzehntrückblick.

Die vorherrschende Meinung in Sachen Technologie lautet: Es war kein gutes Jahrzehnt.

Die New York Times gibt den Ton vor mit einem Special «The Decade Tech Lost Its Way»; in rund 60 schön aufgemachten «O-Tönen» erzählen Protagonisten aus erster Hand.

nyt_interactive_TheDecadeTechLostItsWay_398pxNew York Times (Paywall, fünf Artikel pro Monat frei zugänglich).

Im Tages-Anzeiger zieht Matthias Schüssler nach und schreibt auf einer ganzen Seite mit dem Titel «Die Euphorie ist weg»: «Eine Initialzündung, wie das iPhone eine war, gibt es nicht in jeder Dekade. Nicht allein deswegen hat unser Fortschrittsglaube in den Zehnerjahren einen brutalen Dämpfer erfahren.» 

Tagi_Euphorie_Dec2019_398_pxQuelle: Tweet von Sarah Genner

Der Artikel kulminiert in den Zwischentiteln «Tech-Revolution bleibt Illusion», «Heute, zehn Jahre später, sind wir kein Stück weiter» und vor allem in der Bildunterschrift: «Das Smartphone ist anscheinend gekommen, um zu bleiben.» Anscheinend! Ganz genau wissen wir es noch nicht – aber wir bleiben dran! 🤭

Wer sich ungläubig die Augen reibt, weil er den Autor Matthias Schüssler als erfahrenen und vernünftigen Beobachter der Szene kennt, kann die Print-Version – auf Twitter hemdsärmlig und semilegal von Sarah Genner geshared – mit der viel besseren Online-Version vergleichen. (Kein Tagi-Abo? Gratis-Tagespass mit Code «Euphorie» hier, Danke an Marc Isler.)

Es fällt nicht schwer zu raten, was passiert ist: Schüssler hat den Online-Artikel selbst redigiert und ins Web gestellt, ohne die Zwischentitel und übrigens inklusive einer schönen und informativen Bildstrecke. Die Print-Version dagegen hat jemand anders produziert und mit dem Dreiklang aus düsterem Bild und zugespitzten Zwischentiteln nochmal etwas «Spin» eingestreut. Auch bei der per se inzwischen sehr technologiefreundlichen Tamedia (die das unterstreicht, indem sie seit gestern Abend «TX Group» heisst) gibt es sie noch, die kleinen Gräben zwischen Print und Online.

Aber zurück zum Inhalt, dem Tech-Skeptizismus. Stimmt das alles, sind wir tatsächlich «kein Stück weiter» gekommen in zehn Jahren?

Die technischen Geräte und Anwendungen, mit denen ich am meisten arbeite sind: iPhone, MacBook, Apple Watch; Gmail, Google Docs, Slack.

Wie haben diese sich in den letzten zehn Jahren entwickelt? Schauen wir das alles andere überschattende iPhone / Smartphone ausführlicher an und den Rest kürzer.

Phone / Smartphone

Als Initialzündung für das iPhone wird gemeinhin der 9. Januar 2007 genannt, der Tag der ikonischen Präsentation von Steve Jobs. Auf den Markt kam es aber erst im Herbst 2007. Und in die Schweiz kam das erste Modell gar nicht offiziell, sondern erst das Nachfolgemodell iPhone 3G im Juli 2008. Ausserdem galt zu Beginn keineswegs als ausgemacht, dass das iPhone das eine alles revolutionierende Gerät wird, als das wir es in der Rückschau sehen. Auch gab es natürlich zunächst keine nennenswerte Konkurrenz, sondern erst nach und nach kamen die ersten Android-Modelle auf den Markt.

Apple-iPhone-3GS-398pxiPhone 3GS, Quelle: apple.com

Ich habe mein erstes iPhone immer noch. Mit rund der halben Bildschirmdiagonale im Vergleich zum aktuellen iPhone iPhone 11 Pro Max (3.5" zu 6.5") wirkt es fast wie ein Spielzeug-Handy.

Es funktioniert noch, aber es einzuschalten, macht keinen Spass mehr. Nicht nur weil fast alle Apps kaputt sind, weil es nicht mehr aktualisiert, sondern vor allem, weil es neben winzig klein auch unfassbar langsam und dunkel ist. Ich wage eine steile These: Auch wenn das Ur-iPhone natürlich konzeptionell der Ahne der heutigen Modelle ist – in Sachen User Experience war das iPhone vor zehn Jahren noch näher bei meinem Vor-Handy Nokia E61i von 2006 als beim heutigen Modell 11. Natürlich war es ein grosser Sprung, es zu launchen, aber erst die vielen kleinen Schritte seitdem haben die Smartphones zu dem gemacht, was sie heute für uns alle sind.

Zufällig war es auch der «Tagi», der uns neulich in einem interaktiven Special aufgezeigt hatte, wie sich die Smartphone-Penetration in der Schweiz entwickelt hat (wie in meinem Newsletter vom 16. Oktober verlinkt). Vor zehn Jahren, ein Jahr nach dem Schweizer Launch, war sie erst bei 14%. In der Zeit seitdem dagegen sind wir auf fast 100% gewachsen; ich kenne jedenfalls niemanden mehr mit einem alten «Feature Phone».

Es ist eine müssige Diskussion, welches der «historische» Schritt für das Smartphone war, den man dem Jahrzehnt «gutschreiben» darf: die Entwicklung, die Vorstellung, der Erstverkauf – oder die Übernahme des Konzepts Smartphone (in der Variante Android) durch viele andere Hersteller und der damit erst mögliche Erfolg bei den Massen.

Zwischenfazit: Vor zehn Jahren steckten die Smartphones noch in den Kinderschuhen, dagegen haben sie in den Zehnerjahren ihre Leistung in jeder Dimension vervielfacht und es in jede Handfläche geschafft. Wären wir wirklich «kein Stück weiter gekommen», sähe das ganz anders aus. 

Dieses ausführliche Beispiel zeigt meiner Meinung nach, wie auch in der Technologie-Geschichtsschreibung jeder Meilenstein Interpretationssache ist. Zu den anderen: 

MacBook

Ende 2008 kam das erste Unibody-MacBook heraus, bei dem das Gehäuse aus einem einzigen Stück Aluminium herausgefräst wird; ein grosser Schritt zum Vorgängermodell von 2006. Ich gebe zu, optisch sieht es noch recht ähnlich aus wie mein heutiges Modell, und wenn die umstrittene adaptive Funktionstastenleiste Touch Bar die wichtigste Innovation gewesen sein sollte – oje. Der der wirkliche Quantensprung des Jahrzehnts war unsichtbar, aber umso besser spürbar: Solid-State-Drives (SSD), die von den Smartphones und Tablets kamen und endgültig ab Mitte des Jahrzehnts auch in Laptops die Festplatte mit beweglichen Teilen ablösten. Das Ergebnis: viel schneller startende Programme, so dass einem von einem Tag auf den anderen jeder Festplatten-Computer steinzeitlich vorkam.

Apple Watch / Smart Watch

Vor zehn Jahren gab es noch gar keine nennenswerten Smartwatches. Meine erste war die Pebble, die ich 2014 bekam, nachdem ich zuvor bei einem Kickstarter-Projekt eingezahlt hatte. Das Gerät war so schrecklich hässlich und unfertig, dass ich mich heute frage, ob das wirklich erst fünf Jahre zurückliegen kann.

Apple stiess 2015 erst spät zur Party der Smart Watches, aber mit Macht, und schon nach kurzer Zeit gab man den Takt für das neue Segment vor. Die heutige Apple Watch Series 5 sieht immer noch ähnlich aus (ist halt immer noch eine Uhr), ist aber substanziell besser als die ersten drei Jahrgänge; insbesondere indem sie heute dank eSIM auch «standalone» funktioniert nicht mehr nur als quasi ausgelagertes Display des iPhone.

Schüssler findet übrigens das Gegenteil: «Die Wearables konnten als eigenständige Produktkategorie nicht reüssieren, sosehr es sich die Industrie auch gewünscht hat. Eine smarte Uhr ist und bleibt ein Anhängsel zum Smartphone.»

Beides stimmt ein bisschen, das Wearables-Glas ist halbvoll. Aber auch wenn man sich Cyborg-Fantasien verkneift, halte ich es für praktisch ausgeschlossen, dass wir schon das Ende der Fahnenstange gesehen haben. Und die smarten Devices werden sicher in Zukunft direkt mit der Cloud connecten und nicht mehr nur via Smartphone. 

Jahrzehnt-Fazit

Ja, Smartphones sind noch nicht der grosse Massenmarkt, aber mit geschätzten 50 Milliarden Umsatz in diesem Jahr und immer noch starkem Wachstum auch nicht zu vernachlässigen.

Wer übrigens an der Stelle moniert: «Immer diese Apple-Monokultur!», dem gebe ich natürlich recht, aber lustigerweise ist bei dieser Diskussion die Windows-Perspektive noch eindrücklicher, denn nach landläufiger Meinung haben sich Windows-Computer im letzten Jahrzehnt dramatisch verbessert. Vor zehn Jahren hatte Microsoft noch mit dem Megaflop Vista zu kämpfen und galt als abgehängt, die User flüchteten in Scharen zu Apple. Microsoft und seine Hardware-Partner konnten das spätestens ab Windows 10 drehen, PCs gelten heute als gleich gut und günstiger, und nicht wenige sind zurückgekehrt. Generell hatte Microsoft mit seinem sensationellen und unerwarteten Comeback ein tolles Jahrzehnt. Dazu unten nochmal kurz mehr. 

Kommen wir noch von der Hardware zur Software: Auch die Erfindung der Web-Apps (Software, die komplett im Browser läuft statt lokal auf dem Computer wie früher Word & Co.) könnte man den Nullerjahren zuschreiben und sagen, seitdem ist nichts mehr passiert.

Nun ja. So sah Gmail 2009 aus:

gmail-1

Quelle: How Stuff works

Ich nutze Gmail seit 2004 und fand es immer schon cool, aber in den ersten Jahren konnte ich nicht wirklich widersprechen, wenn Leute sagten, sie bleiben lieber bei ihrem lokalen Client (Outlook, MacMail), weil sie damit einfach schneller seien. Das ist vorbei. Inzwischen outperformen Web-Apps in fast allen Bereichen ihre lokalen Verwandten nach Belieben – und vor allem entwickeln sie sich viel schneller weiter.

Gmail hat im August ein neues Autokorrektur-Feature lanciert, das so gut ist, dass man es nicht nur sofort liebt, sondern auch sofort danach in allen anderen Apps vermisst:

Gmail-Autokorrektur-1

Quelle: Eigener Screenshot Gmail. Siehe auch hier.

So lief die Entwicklung für viele Anwendungen: In den Nullerjahren waren die Web-Apps durch neue Technologien wie Ajax aufgekommen, aber in den letzten Jahren sind sie so viel besser geworden, dass ich heute praktisch eine einzige lokale App mehr nutze, sondern nur noch Web-Apps:

GoogleDocs

Auch hier war es früher ein Trade-Off, vor zehn Jahren musste man sich noch entscheiden: Will man lieber den besseren Client (Word, Excel, PowerPoint) oder die Kollaborations-Features von GoogleDocs bzw. «G Suite» (Docs, Sheets, Slides). Inzwischen finde ich die User Experience aller G-Suite-Module deutlich angenehmer als die ihrer Offline-Vorgänger. Hardcore-Excel-User erzählen, die Onliner bieten noch nicht alle Features, aber für mich reicht's locker, und es macht viel mehr Spass.

Slack

Auch der webbasierte Instant-Messaging-Dienst Slack hat eine spannende Vorgeschichte, denn er ist eigentlich eine aufgebohrte Version des 30 Jahre alten Uralt-Chat-Protokolls IRC, einfach hundertmal angenehmer zu bedienen und auf die zahlreichen Bedürfnisse von Firmen angepasst. Slack wurde 2013 gegründet, ist inzwischen an der Börse und 12 Milliarden Dollar wert. In meiner der täglichen Arbeit war der Übergang von E-Mail zu Slack eine kleine Revolution, und der lag voll im letzten Jahrzehnt.

Es liessen sich noch viele weitere Firmen und Tools nennen, die in den Nullerjahren gegründet wurden, aber in den Zehnerjahren zu weltweiter Bedeutung gewachsen sind. HubSpot (gegründet 2006, IPO 2014) finde ich für kleine Firmen viel angenehmer zu nutzen als Salesforce, mit dem ich vor zehn Jahren hantiert habe. LinkedIn hat sich in den letzten Jahren als das Business-Netzwerk etabliert, und nicht zuletzt hat Netflix den Streaming-Boom ausgelöst und uns eine «nie gesehene kulturelle Vielfalt beschert» – das letzte schreibt auch Matthias Schüssler.

Noch ein Blick auf die Wertsteigerung der Tech-Firmen im letzten Jahrzehnt. In Vorträgen sieht man oft die Gegenüberstellung der grössten Firmen von heute versus vor zehn Jahren:

1999:

Most-Valuable-Companies_Apr-1999

 

2019:

Most-Valuable-Companies_Apr-2019

 

Wer Langeweile hat, kann sich die Entwicklung von 1997-2019 auch in einem YouTube-Video (4:28 min.) mit bombastischer Musik und animierten Balken anschauen. Der Durchmarsch der Tech-Firmen ist eindrücklich. 

 

***

Natürlich haben die aktuellen Tech-Skeptizismus-Artikel alle auch noch einen anderen Tenor, den ich auch mitbekommen, aber hier und heute bewusst ausgelassen habe, nämlich den nach der Sinnfrage: «The Decade Tech Lost Its Way», wie die New York Times es überschrieb.

Hat die Technologie im letzten Jahrzehnt Überwachung, Propaganda, Fake News, Verschwörungstheorien, Hass und den Aufstieg von Populisten gefördert?

Ja, leider auch, aber das wäre Stoff für einen anderen Artikel. Ich bleibe auch hier verhalten optimistisch, weil ich glaube, dass wir nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaften noch lernen müssen, mit all den neuen Möglichkeiten umzugehen, die im neuen Jahrhundert doch irgendwie unvermittelt über uns hereingebrochen sind. 

Matthias Schüssler schliesst seinen Artikel mit dem auch von mir immer wieder gern zitierten Hype-Zyklus von Gartner, der besagt, dass bei jeder neuen Technologie Erwartungen «erst ins Unermessliche wachsen, um dann ins Tal der Enttäuschungen abzustürzen, bis sie sich auf einem gesunden Niveau einpendeln». Ich hoffe immer noch sehr, dass das auf einer Meta-Ebene auch für die durchaus oft unangenehmen Technologie-Nebenwirkungen gilt. Und komme gern im neuen Jahr nochmal darauf zurück.

 

Leseempfehlungen zum Thema:

 

Das iPad kam in meinem Bericht gar nicht vor – ehrlich gesagt, es spielt in meinem Leben auch keine grosse Rolle. Aus dem zuoberst verlinkten NYT-Special herausgegriffen: Der Apple-Marketing-Chef erinnert sich.

Mein Studienfreund Andreas Göldi hatte auch mal etwas Spannendes geschrieben, wie lang doch zehn Jahre sein können, aber aus der völlig anderen Perspektive eines Investors, der in die Zukunft schauen will.

 

Topics: Digitalisierung, Internet, Scope-Newsletter Peter